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Nature/AlanWarburton

Nützlich, persönlich, reflektierend: Aktuelle Konzepte für einen Journalismus, der auch übermorgen noch relevant ist

[Antrittsvorlesung von Christina Elmer, gehalten auf dem Institutstag, 8. Juli 2022]

Datengetriebene Recherche, interaktive Formate, digitale Öffentlichkeiten: Mit der neuen Professur für digitalen Journalismus und Datenjournalismus erweitert das Institut für Journalistik sein Themenspektrum in Forschung und Lehre. Welche Entwicklungen und Konzepte dabei im Fokus stehen, beschreibt diese Antrittsvorlesung. Dabei geht es immer auch um die Impulse, die daraus für die praktische Ausbildung und die wissenschaftliche Arbeit am Institut resultieren. Und es zeigt sich deutlich: Innovative Methoden und nutzerzentriertes Denken können den Journalismus transformieren, sofern er die Bodenhaftung nicht verliert, unabhängig bleibt, kritisch und evidenzbasiert.

Vor dem Blick in die Zukunft steht daher die Verankerung: Wozu braucht die Gesellschaft den Journalismus? Und was sind seine wichtigsten Funktionen? In ihrem Standardwerk „The Elements of Journalism” definieren Bill Kovach und Tom Rosenstiel dies primär aus der Perspektive des Publikums: „The purpose of journalism is thus to provide citizens with the information they need
to make the best possible decisions about their lives, their communities, their societies, and their governments.”

Informationen zu liefern, die Bürgern dabei helfen, bestmögliche Entscheidungen zu treffen: Kovach und Rosenstiel definieren Journalismus also primär über den Nutzen für jeden und jede Einzelne in der Gesellschaft, ohne eine Aussage über Technologie oder Formate zu treffen. Das macht diese Definition auch so hilfreich für den Blick auf eine zunehmend digital vernetzte Gesellschaft, schließlich kennen wir deren zukünftige Strukturen und Eigenschaften heute noch nicht. In dieser Hinsicht ist die Definition also agnostisch. Und sie fordert vom Journalismus geradezu, sich an die Gegebenheiten anzupassen, um seine Publika zu erreichen.

Diese Herausforderung ist neu. Als Informationen noch nicht jederzeit von allen publiziert und verbreitet werden konnten, gehörten Medien zu den Gatekeepern. Diese Funktion ist inzwischen Geschichte, aus Rezipienten sind Prosumenten geworden – Menschen also, die gleichsam Inhalte produzieren und konsumieren. Medien haben hingegen neue Aufgaben hinzugewonnen. In einer digitalen, von mehr oder weniger informativen Beiträgen durchzogenen Öffentlichkeit, werden Journalist:innen umso mehr gebraucht, um Inhalte zu prüfen und einzuordnen, um Relevantes vom Beliebigen zu trennen, um Missstände aufzudecken und zu dokumentieren, wohin ansonsten niemand schaut. Neben diesen Funktionen sehen Kovach und Rosenstiel die Medien auch als Instanz, die ihre Publika im gesellschaftlichen Diskurs stärkt, sie mit essenziellen Informationen versorgt und basierend auf Themen und Interessen auch Communities aufbaut. Keine lineare Struktur also aus Sendern und Empfängern, sondern ein dynamisches Netzwerk, in dem der Journalismus über diverse Funktionen mit der Gesellschaft verbunden ist.

In diesem Ökosystem haben Medien auch heute noch eine große Relevanz – und zugleich Probleme, mit ihren Inhalten durchzudringen. Wie das Reuters Institute in einem Report Anfang 2019 schreibt, verliere der Journalismus heute oftmals den Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit und in einigen Ländern auch um das Vertrauen der Menschen. Geschwächt sei der professionelle Journalismus letztlich wegen angegriffener Geschäftsmodelle, was ihn wiederum anfälliger für kommerziellen oder politischen Druck mache. Ursachen dafür kommen indes aus unterschiedlichen Richtungen: Die digitale Transformation setzt Redaktionen unter Zugzwang und schafft starke Konkurrenz im öffentlichen Raum, strategisch gesteuerte Desinformation wirkt kontrafaktisch und mit Plattformunternehmen stehen Medien in einem komplexen, gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Im Ergebnis wird es für Journalist:innen schwieriger, die Qualitätsmerkmale ihrer Arbeit zu verfolgen und glaubhaft zu transportieren. Was bedeuten letztlich Unabhängigkeit und Transparenz in einem derart vernetzten digitalen Ökosystem?

Für Rezipient:innen wird es jedenfalls mitunter schwierig, professionellen Journalismus von Quellen ohne Qualitätsanspruch zu unterscheiden. So gab in der Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen im Jahr 2020 die Mehrheit der Befragten an, Medien eher oder voll und ganz bei wichtigen Themen zu vertrauen. Auf „Nachrichten auf sozialen Netzwerken“ angesprochen, konnten sich nur wenige Befragte zu dieser Aussage durchringen. Im Wissenschaftsbarometer 2021 zeigt sich dieses ambivalente Bild auch in der Abgrenzung zu anderen Akteuren. So war das Vertrauen in die Aussagen von Ärzten und Wissenschaftlern zu Corona bei etwa drei von vier Befragten ausgeprägt, während Journalisten als nur wenig glaubwürdiger bewertet wurden als Politiker. Nur etwa jeder fünfte Befragte gab an, Medien bei Aussagen zur Pandemie zu vertrauen. Zusammenfassen lassen sich diese Befunde wohl damit, dass das Konstrukt des Journalismus durchaus als vertrauenswürdig wahrgenommen wird. In Umfeldern mit starker Konkurrenz durch unseriöse Quellen und gezielter Desinformation schwindet dieses Vertrauen aber massiv. Auf diese Umfelder und die damit zusammenhängenden kommunikativen Herausforderungen benötigen Medien noch immer Antworten.

Besonders deutlich zeigt sich dies bei jungen Menschen. Für sie steht nicht primär die Qualität des Journalismus zur Diskussion, sondern dessen grundsätzliche Ausrichtung und Themensetzung. In der Studie UseTheNews gaben viele der befragten Jugendlichen an, dass sie nicht nur manchmal Hintergründe zu den berichteten Ereignissen vermissten, sondern auch den Bezug, warum diese für sie wichtig sind. Wie diese Bezüge aussehen können, untersuchte eine Befragung von Flamingo im Auftrag des Reuters Instituts. Bezogen auf Nachrichten zeigten sich darin sechs Kernbedürfnisse bei jungen Erwachsenen: einerseits die eigene Entwicklung hinsichtlich Status, Identität und Lernen, andererseits Freude, was Leidenschaften, Unterhaltung und Verbindungen zu anderen Personen umfasst. Die Botschaft ist klar: Um relevant zu bleiben, sollten sich Journalist:innen mit diesen Motiven befassen und Wege finden, sie zu adressieren.

Was aber, wenn die diversen persönlichen Bezüge und Lebenswirklichkeiten eine Differenzierung erfordern, die das Mediensystem gar nicht ausprägen kann – jedenfalls nicht mit herkömmlichen Methoden? Lösungsansätze dafür finden sich im Digitalen, in Algorithmen und Automatisierung, gepaart mit qualitativ hochwertigem Journalismus. Dieser Beitrag zeigt konzeptionell und exemplarisch, wie Medien die Digitalisierung für zukunftsweisende Formate nutzen können. Er beschreibt zudem die dafür notwendige Weiterentwicklung des journalistischen Mindsets und die Auswirkungen für Arbeitsweisen, Rollenbilder und Kultur. Und er schließt mit einem Blick auf Vorbilder für ein vertrauensbildendes Verhältnis zwischen Medien und ihren Publika. Denn im Kern geht es um genau diese Verbindung, die den Journalismus begründet, fordert und legitimiert.

Modularer Journalismus als Antwort auf die Hyperpersonalisierung im Netz

„Baram ist 19 Jahre alt und lebt zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter und seiner Schwester in einer Wohnung“, so erzählt der Report des WDR-Innovationshubs einen Tag im Leben der Generation Alpha im Jahr 2035. Was zunächst wie Fiktion anmutet, basiert auf Trendreports, Studien und Umfragen, Nutzungsdaten und exemplarischen Personas. Baram ist so eine Persona. Er nutzt Technologien, die wir schon heute kennen, etwa Fitnesstracker und Lieferroboter. Allerdings sind reale und virtuelle Realität in dieser Zukunft stärker verknüpft als heute. Unter anderem werden Nachrichten dadurch relevant, dass Orte und Themen auch in Computerspielen auftauchen. Überhaupt gibt es Nachrichten nur noch in personalisierter Form, auf Wunsch vorgetragen von einer Voice-Assistentin. Welche Themen darin vorkommen, ist auf Barams Interessen und seine Lebensrealität abgestimmt – gesteuert über die vielen Datenspuren, die Baram in seinem durch und durch digitalisierten Alltag hinterlässt.

Eine derartige Hyperpersonalisierung erleben wir bereits heute in digitalen Angeboten wie Spotify oder Netflix. Basierend auf unseren individuellen Nutzungsdaten erstellen lernende Algorithmen immer neue Empfehlungen und Playlisten. Für diese Systeme gehören wir nicht mehr primär zu einer Zielgruppe, sondern werden persönlich angesprochen – eine Mechanik, die ihren Ursprung im Echtzeit-Marketing hat und nicht nur unser Nutzungserleben auf digitalen Plattformen prägt, sondern auch unsere Erwartungshaltung. Wenn sich die Digitalisierung so persönlich anfühlen kann, warum dann nicht die abendliche Nachrichtensendung? Natürlich ist schon diese Frage eine Provokation. Schließlich muss der Journalismus, um gesamtgesellschaftlich wirksam zu sein, auch Themen setzen, Relevanz also übergreifend definieren. Doch das schließt nicht aus, bestimmte Teilbereiche oder Formate zu personalisieren, um Menschen besser zu erreichen.

Der Innovationsreport der New York Times hat diese Möglichkeit schon 2014 beschrieben: „serve everyone the same dinner but at least give them their favourite deserts.“ Im Nachrichtenmenü auf der Homepage wäre also der Hauptgang mit den wichtigsten Meldungen für alles Leser:innen identisch, jedoch dürfte sich die Nachspeise von Person zu Person unterscheiden. Zum Beispiel Nachrichten, die einen starken regionalen Bezug haben oder sich auf persönliche Interessen beziehen, für bestimmte Sportarten, Kunst oder Kultur. Darüber hinaus lässt sich Personalisierung aber auch auf das Format und die inhaltliche Gestaltung bezogen definieren. So könnte ein Artikel automatisiert so aufbereitet werden, dass er von einer bestimmten Person in einer spezifischen Nutzungssituation optimal rezipiert werden kann. Konkret könnte das bedeuten: Lese ich eine Nachricht an der Bushaltestelle auf dem Handy, wird das Format auf diese Situation und mein Vorwissen hin angepasst. Der Beitrag würde passend zur Wartezeit gekürzt und mit den Hintergründen angereichert, die ich noch nicht kenne.

Es gibt also Wege der Personalisierung im Journalismus, die ihn in seiner gesellschaftlichen Funktion nicht gefährden – und es spricht viel dafür, sie zu nutzen. Erstens sind die technologischen Voraussetzungen bereits entwickelt und implementiert, etwa Metadaten, lernende Systeme und Sensoren in Smartphones. Zweitens könnten Medien auf diesem Weg die Menschen in einer zunehmend fragmentierten Öffentlichkeit wirksamer als heute erreichen, idealerweise auch außerhalb ihrer angestammten Resonanzräume. Drittens wären journalistische Inhalte anschlussfähiger für heutige und zukünftige Plattformen, wenn sie Anknüpfungspunkte für die dort verbreitete Personalisierung böten. Und viertens würde dies einem Publikum entgegenkommen, das durch die Nutzung eben jener Plattformen inzwischen daran gewöhnt ist, die eigenen Interessen in den konsumierten Inhalten wiederzufinden.

Welche Formate auf diese Weise entstehen können, zeigen diese aktuellen Entwicklungen:

  • Lokale Corona-Inzidenzen: Sowohl der Norddeutsche als auch der Westdeutsche Rundfunk entwickelten in der Covid-Pandemie Lösungen, um ihre Rezpient:innen zielgerichtet mit regionalen Statistiken und Kennwerten zu versorgen. Der NDR integrierte dieses Angebot in die eigene App, der WDR entwickelte Services für die Messenger von Telegram und Facebook.
  • Automatisierte Wahlergebnisse: Wie einige weitere Medien veröffentlichte auch der Spiegel automatisch generierte Artikel zu Landtags- und Bundestagswahlen. Diese beschreiben regionale Ergebnisse anhand festgelegter Regeln und Bausteine sowie vordefinierter Infografiken. Ausdrücklich nicht beteiligt sind daran lernende Algorithmen, die selbstständig Texte formulieren, sodass der hier häufig verwendete Begriff des Roboterjournalismus in die Irre leitet.
  • Regionalisierte Nachrichten: In einem Prototyp legte das AI and Automation Lab des Bayerischen Rundfunks eine Lösung vor, wie regionale Nachrichtenformate ortsbezogen und personalisiert angeboten werden können. Dafür wurden fest zugeschnittene Sendungen aus Regionalfenstern des Rundfunks in einzelne Clips zerlegt und je nach Standort und regionalem Interesse automatisch neu zusammengesetzt.

Das modulare BR-Nachrichtenformat basiert auf dem Konzept des Structured Journalism, das von den BBC News Labs bereits für diverse Nutzungskontexte eingesetzt und vom Lab des Science Media Center Germany für die Anwendung im Wissenschaftsjournalismus erforscht wird. Kern des Konzepts: Als kleinste Einheit im medialen Produktionsprozess werden nicht die Meldung oder der Beitrag begriffen, sondern die Informationselemente, aus denen diese zusammengesetzt sind. Die wiederum werden strukturiert gespeichert und können somit je nach Kontext neu kombiniert werden. Ein solches Element kann zum Beispiel ein Hintergrundabsatz zu einem aktuellen Konflikt sein. Ist er einmal geschrieben und klassifiziert, könnte er automatisch allen zukünftigen Artikeln beigestellt oder direkt in sie eingebunden werden.

Diese Vision eines Structured Journalism ist in vieler Hinsicht zukunftsweisend. Sie zeigt, wie die laufende digitale Transformation auch neue Spielräume für den Journalismus bieten kann. Allerdings fordert sie das System massiv heraus. So müssten Redaktionen ihre technologische Infrastruktur umbauen, um die beschriebenen Module sinnvoll speichern zu können. Metadaten müssten definiert und implementiert, lernende Systeme mit Trainingsdaten versorgt werden. Dadurch würde die Produktion journalistischer Inhalte technisch anspruchsvoller und neue Kompetenzen wären erforderlich, etwa im Umgang mit Daten, Prozessen, Algorithmen. Den Systemen wiederum müsste beigebracht werden, nach welchen Werten und Relevanzkriterien die Redaktion entscheidet, idealerweise anhand klarer Definitionen.

Hinzu kommen Herausforderungen, die weit über die technische Ebene hinausreichen: Die genannten Kriterien wie auch die Prozesse selbst müssten nach innen und außen transparent kommuniziert werden, um interne Workflows wie auch das Vertrauen der Rezipient:innen zu sichern. Und all das hätte Auswirkungen auf die Kultur in den Redaktionen, auf die Zusammenarbeit und das Selbstverständnis der Journalist:innen. Nicht zuletzt wäre es notwendig, sich intensiver mit der Perspektive und den Bedürfnissen der Publika zu befassen. Denn nur, wenn es auch aus einer Produktsicht funktioniert, könnte das Konzept eines modularen Journalismus überhaupt verfangen. In den Redaktionen wären also Entwicklungen in vielen Bereichen notwendig, vom Maschinenraum bis zur Unternehmenskultur. Der wohl wichtigste Faktor bliebe aber konstant: Weiterhin hätten Journalist:innen das Ziel, ihren Publika die für gesellschaftlich relevante Entscheidungen bestmöglichen Informationen zu liefern. Nur eben deutlich gezielter als heute, und zudem in personalisierbaren Formaten.

Damit eine derartige Vision exploriert und womöglich sogar realisiert werden kann, ist auch die journalistische Ausbildung gefragt. Neue Kompetenzen müssten vermittelt werden, zu Technologien, Dateninfrastrukturen und das Management von Prozessen. Zugleich wären Entwicklungslabore wichtig, in denen prototypische Angebote konzipiert, erstellt und getestet werden können. Damit eng verbunden wäre eine Erforschung neuer Angebote und Potenziale der Automatisierung redaktioneller Prozesse, etwa in Machbarkeits- oder Rezeptionsstudien. Das Institut für Journalistik bietet schon heute die dafür notwendigen Räume in Lehre, multimedialer Ausbildung und Forschung. Zudem ist es bereits interdisziplinär mit wissenschaftlichen Akteuren aus Feldern wie Data Science, Statistik und Innovationsmanagement verbunden, die in Projekte zu zukünftigen digitaljournalistischen Formaten eingebunden werden sollten. Beste Voraussetzungen also, um die redaktionelle Zukunft in diesem Sinne zu bereichern, zu unterstützen und zu hinterfragen.

Journalismus aus der Perspektive des Publikums

Das Konzept des Structured Journalism zeigt: Technologie fordert Redaktionen heraus, ermöglicht es ihnen aber auch, mit ihren Formaten näher an die Bedürfnisse ihrer Leserschaft zu gelangen. So zumindest die Theorie. Denn ob es später auch gelingt, Menschen mit Journalismus zu erreichen, entscheidet sich am konkreten Format, an Inhalten und Präsentation. Um dafür die richtigen Entscheidungen zu treffen, folgen viele Medienhäuser inzwischen dem Prinzip der Nutzerzentrierung. Dafür notwendig sind nicht nur neue Methoden, sondern in erster Linie eine neue Haltung, wie Jeremy Gilbert in einem Beitrag für das NiemanLab betont: „A human-centered approach means learning from, not dictating to, news consumers.“ Nur wenn Redaktionen bereit seien, von ihren Rezipient:innen zu lernen, anstatt ihnen ihre Produkte einfach vorzusetzen, könne Journalismus in diesen Zeiten erfolgreich sein. Schließlich blickten Publika jeweils ganz unterschiedlich auf Nachrichten, abhängig von etwa Herkunft, sozialem Status oder Bildung. Das war natürlich schon immer so – aber heute sind Medien nun mal keine Gatekeeper mehr, sondern haben vielfältige Konkurrenz.

Beim Perspektivwechsel helfen methodische Werkzeuge wie das Design Thinking, welches aus der Arbeitsweise erfolgreicher Designer abgeleitet wurde. Der Prozess besteht grob aus zwei Teilen: Zunächst werden die Nutzerbedürfnisse bezogen auf Informationsangebote erforscht und auf den Punkt gebracht, dann wird darauf aufbauend ein neues Produkt prototypisch entwickelt und an Personen aus dem Publikum getestet. Diese Abfolge ist entscheidend und erfordert, dass sich Journalist:innen zunächst so empathisch wie möglich auf die Lebensrealität ihrer Rezipient:innen einlassen. Erst wenn klargeworden ist, welches zentrale Informationsbedürfnis diese Menschen haben, kann ein dazu passendes Angebot erdacht werden. Das geschieht nicht immer geradlinig. Nicht selten müssen beim Design Thinking einzelne Schritte wiederholt werden, etwa wenn sich beim Feedback herausstellt, dass eine Annahme nicht stimmte oder ein Prototyp doch nicht als nützlich wahrgenommen wird. Und noch etwas unterscheidet diesen Prozess vom klassischen journalistischen Arbeiten: Techniken der Ideenfindung funktionieren oftmals dann besonders gut, wenn neue Ideen nicht direkt kritisch hinterfragt werden, sondern Keimzellen für weitere, noch bessere Ideen werden können. Alle anderen werden sich letztlich ohnehin nicht durchsetzen können, so das Konzept.

Während Design Thinking in Feldern wie der Produktentwicklung oder im Marketing bereits vielfach eingesetzt wird, stellt es für Redaktionen aus mehreren Gründen eine Herausforderung dar. Wie schon angedeutet, erfordert die Methode andere Fähigkeiten, als im redaktionellen Arbeiten gemeinhin gefördert werden. Im Gegenteil: Journalistische Kompetenzen wie das kritische Beobachten und die investigative Recherche sind im Design Thinking sogar hinderlich und können es erschweren, sich empathisch in die Perspektive der Rezipient:innen zu begeben oder ganz neue Ideen zu entwickeln. Zudem müssen die redaktionellen Relevanzkriterien aktiv in den Prozess eingebunden werden, damit die entwickelten Produkte auch die übergeordneten Werte fördern können. Ansonsten wäre die Gefahr zu groß, zwar funktionierende Angebote zu entwickeln, die aber die inhaltlichen Ziele der Redaktion nicht transportieren. Ein reines Unterhaltungsformat beispielsweise, das mit der Vermittlung wahrhaftiger Informationen nichts mehr zu tun hat.

Wie wird das Prinzip der Nutzerzentrierung in der Entwicklung journalistischer Angebote und Formate angewandt? Dazu drei Beispiele:

  • Tageszeiten für Audio: Die New York Times legte 2021 ihrer neuen Audio-App einen typischen Tagesablauf zugrunde. Darin fanden sich charakteristische Zeitfenster, in denen Menschen Podcasts und Radiosendungen hören – während des Pendelns, im Fitnessstudio, bei der Hausarbeit. Für die Entwicklung war also entscheidend, die App mit Funktionalitäten auszustatten, die es ihr ermöglichen, einen Platz im mitunter eng getakteten Alltag der Hörenden zu finden.
  • Junge Nachrichten: Mit der App News.Zone entwickelte das Innovationslabor des Südwestrundfunks ein Nachrichtenangebot für die Zielgruppe der Generation Z. Auch dabei stand die Erforschung der Lebenswirklichkeit und Bedürfnisse dieser Zielgruppe am Anfang des Entwicklungsprozesses, in dem die Ergebnisse immer wieder in Workshops verfeinert und getestet wurden. Im Ergebnis entstand eine App, deren Produktversprechen unter anderem darauf abzielt, den Nutzenden „volle Kontrolle“ über das Angebot zu geben, das von einem „jungen News-Team“ kuratiert wird, „kein Gelaber“ enthält und über einen „Feel-Good-Push“ auch gute Nachrichten verbreitet.
  • Neue Formate für KURT: Im Seminar „Digitale Formatentwicklung“ haben auch Studierende am Institut für Journalistik die Möglichkeit, die Methode des Design Thinking für die Lehrredaktionen KURT zu erlernen und testweise anzuwenden. Im zurückliegenden Wintersemester wurden dabei unter anderem eine studentische Kochshow konzipiert, in der gesellschaftspolitische Diskussionen über einen Twitch-Stream verbreitet und zugänglich gemacht werden. Zudem entwarfen Studierende ein Video-Tagebuchformat mit jungen Gründern und einen Newsletter zum Angebot der Campusmensa. Jedem Format lagen Interviews mit realen Vertretern der KURT-Zielgruppen zugrunde, die mit ihren Interessen und Bedürfnissen erste Anstöße für die späteren Nachrichtenformate gaben.

In der Praxis sind gerade diese vertiefenden Gespräche für Journalist:innen oftmals überraschend. Sie stellen fest, dass viele Menschen gar kein großes Bedürfnis danach haben, sich mithilfe redaktioneller Angebote auf dem Laufenden zu halten. Im Gegenteil: Wie aktuelle Studien zeigen, verbreitet sich zunehmend ein Phänomen namens News Avoidance, also Nachrichtenvermeidung. Wie aus dem aktuellen Digital News Reports des Reuters Instituts hervorgeht, gaben in einer repräsentativen Befragung in Deutschland jede dritte Frau und jeder vierte Mann an, manchmal oder häufig Nachrichten aktiv aus dem Weg zu gehen. Unter jüngeren Altersgruppen kommt dieses Verhalten noch etwas häufiger vor. Als Ursachen wird global vor allem die belastende Wirkung des übergroßen Angebots an Nachrichten genannt, etwa zu Politik und Covid, aber auch grundsätzlich. Menschen reflektieren also zunehmend, wie Medienangebote auf sie wirken – und halten sie auch bewusst von sich fern.

Das Konzept des Constructive Journalism bietet Ansätze, um diese Problematik mit redaktionellen Angeboten zu adressieren. Es verbindet die Berichterstattung über Lösungen mit einer differenzierten Sichtweise, die auch Nuancen und Grautöne einschließt. Dadurch will der konstruktive Journalismus die demokratische Gesellschaft zu wichtigen Debatten anregen und diesen Raum bieten. Gerade angesichts des Klimanotfalls und weiterer globaler Krisen soll dieser Ansatz dabei helfen, dass Menschen sich überhaupt mit Nachrichten befassen, sich nicht vor ihnen zurückziehen und etwa eine erlernte Hilflosigkeit ausbilden. In Deutschland widmen sich unter anderem das Online-Magazin Perspective Daily und das jüngst gegründete Bonn Institute dem konstruktiven Journalismus, mit dessen Methoden sich derzeit auch immer mehr Redaktionen befassen.

Diese Entwicklung zeigt deutlich: Auch Nachrichtenfaktoren befinden sich im Wandel und Journalist:innen sind gut beraten, nicht zu stark am klassischen redaktionellen Relevanzbegriff festzuhalten. Um die Welt zu verstehen und gute Entscheidungen zu treffen, benötigen Menschen heute andere Informationen als noch vor zehn Jahren, andere Inhalte, Formate und Erzählmuster. Und in zehn Jahren werden wir sicher erneut nach neuen Konzepten suchen müssen. Unsere Studierenden sollten daher beides lernen – die journalistischen Basiskompetenzen der fundierten Recherche und wirkungsvollen Vermittlung auf der einen, Methoden zur nutzerzentrierten Entwicklung neuer Formate auf der anderen Seite. Und sie sollten darüber reflektieren und später kompetent entscheiden können, welche ihrer Ideen nicht nur das Potenzial zum Erfolg haben, sondern auch zu gesellschaftlicher Relevanz.

Ein Update ist also auf gleich mehreren Ebenen nötig. Es betrifft die Kriterien, nach denen Medienschaffenden ihre Themen auswählen und priorisieren: Angesichts komplexer globaler Krisen verlieren tagesaktuelle Neuigkeiten für viele Menschen an Relevanz, wohingegen Hintergründe und Entwicklungen mit einem großen Impact auf die Zukunft auch im Nachrichtengeschäft stärker nachgefragt werden. Um derartige Themen zu vermitteln, benötigen Journalist:innen neue Kompetenzen, im Storytelling wie auch in der Recherche, etwa in der Datenanalyse und der Bewertung statistischer Modelle. Und sie brauchen Methoden, um die gesellschaftlichen Erwartungen an den Journalismus immer wieder in ihre Entwicklungsarbeit einzubeziehen, kritisch zu hinterfragen und experimentell zu testen. Die notwendigen Veränderungen gehen also weit über einzelne Kompetenzen hinaus, sie betreffen die redaktionelle Arbeitsweise und Kultur, das Berufsbild und die Haltung.

Redaktionelle Algorithmen im Dienst der Gesellschaft

Schon heute ist die redaktionelle Arbeit ohne Technologie undenkbar: Inhalte werden online recherchiert, über Redaktionssysteme produziert, auf eigenen und externen digitalen Plattformen ausgespielt. Und in den vergangenen Jahren hat sich die Verzahnung von Journalismus und Technologie noch weiter verstärkt. So veröffentlichte bereits 2017 die Nachrichtenagentur AP (The Associated Press) einen Report zum Thema „Augmented Journalism“, der die Integration von lernenden Algorithmen in redaktionelle Workflows untersuchte. Von der Analyse umfangreicher Datenquellen bis zur Umwandlung von Text zu Audio und umgekehrt: Die dort genannten Beispiele verdeutlichen die Potenziale im Zusammenwirken von Mensch und Maschine. Basierend auf der Entwicklung generativer KI-Systeme, die Texte und Bilder in immer besserer Qualität erstellen können, werden diese Potenziale aktuell intensiv diskutiert. Wie also lassen sich (lernende) Algorithmen möglichst gewinnbringend in die journalistische Arbeit integrieren, ohne die Qualität der Inhalte aufs Spiel zu setzen?

Um diese Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf den Datenjournalismus – eine Disziplin, die aus dem Computer Assisted Reporting hervorgegangen ist und sich über die Einbindung großer Datensätze in journalistische Recherchen und Formate definiert. Dafür binden Datenjournalist:innen diverse Werkzeuge in ihre Workflows ein – von der Recherche über die Beschaffung, Bereinigung und Analyse von Daten bis zu Visualisierung, Storytelling und Verifikation. Das Handwerk der Recherche und Vermittlung spielen durchaus weiterhin eine Rolle, nur eben verzahnt mit den digitalen Methoden und in diesem Sinne „augmented“. Die Erweiterung des journalistischen Werkzeugkastens, sie hat also längst begonnen.

Welche Technologien dabei eingesetzt werden, zeigen drei beispielhafte datenjournalistische Projekte:

  • Satellitendaten zu Hitzeinseln: Im städtischen Raum können infolge des Klimawandels im Sommer Hitzeinseln entstehen, die sich auch nachts nur noch schlecht abkühlen und für Menschen lebensgefährlich sein können. Anhand von meteorologischen Wetterstationen lassen sich diese Bereiche aber nicht eingrenzen, da es nicht genug Stationen in Innenstädten gibt. Der Bayerische Rundfunk hat sich dem Thema mithilfe von Satellitendaten und lernenden Algorithmen genähert und konnte die Problematik somit lokal nachvollziehbar machen. Flankiert wurde die Datenrecherche zudem von Beiträgen, die dem dargestellten Problem eine Perspektive geben – etwa zu vorbereitenden Maßnahmen der Städte oder Möglichkeiten, den Klimawandel zu mildern.
  • Datenleaks strategisch auswerten: Investigative Rechercheprojekte wie „Panama Papers“ oder „Football Leaks“ haben deutlich gemacht, welche Erkenntnisse sich aus umfassenden Beständen digitaler Dokumente ziehen lassen – vor allem, wenn diese von internationalen Kooperationen ausgewertet werden, die journalistische und technologische Kompetenzen mitbringen. Digitale Werkzeuge und lernende Algorithmen halfen dabei, die Dokumente zu erfassen und durchsuchbar zu machen, Personen und Unternehmen zu identifizieren sowie Netzwerke zu enthüllen. Beim bislang umfangreichsten Leak, den Pandora Papers, dauerten diese Analysen dennoch über ein Jahr, wie das Recherchenetzwerk ICIJ berichtet.
  • Automatisierte Wahlberichte: Wetterberichte, Sportergebnisse, Börsennachrichten – ist die Berichterstattung eng mit strukturierten Datensätzen verknüpft, lassen sich Inhalte auch automatisiert aus diesen Daten ableiten. Was gemeinhin als „Roboter-Journalismus“ bezeichnet wird, wird allerdings in der Regel ohne lernende, eigenständig formulierende Algorithmen umgesetzt. Stattdessen verwenden Redaktionen regelbasierte Systeme, die mithilfe von Datensätzen vorher klar definierte und von der Redaktion verfasste Textbausteine zusammensetzen. Der Spiegel erstellte auf diese Weise, wie bereits erwähnt, hunderte Ergebnisberichte für Landtags- und Bundestagswahlen und verstärkte damit die regionalspezifische Berichterstattung.

Was für eine Transformation: Während Journalist:innen früher einzelne Beiträge erstellt haben, kooperieren sie heute mit (lernenden) Algorithmen und entwerfen Systeme, die automatisiert hunderte Beiträge generieren und veröffentlichen können. Die Beispiele zeigen, wie umfassend sich Rollenbilder und Kompetenzen bereits in einigen Bereichen der Redaktionen verändert haben. Wer seine Berichterstattung erfolgreich automatisieren kann, muss nicht nur mit Inhalten und Technologie umgehen können, sondern auch das digitale Umfeld kennen und Informationsbedürfnisse des Publikums antizipieren. Im Ergebnis entsteht dabei nicht nur eine Story, sondern eine Informationsarchitektur – entworfen und umgesetzt von Profis, die entsprechend nicht mehr nur Storytelling betreiben, sondern zugleich auch Informationsarchitekt:innen geworden sind.

Für die Ausbildung am Institut für Journalistik lassen sich aus diesen Beobachtungen wertvolle Impulse ableiten. Unsere Studierenden sollten in der Lage sein, die mediale Transformation aktiv mitzugestalten und sinnvoll voranzutreiben. Dafür sind nicht nur die bereits beschriebenen Kompetenzen wichtig, sondern ebenso die Fähigkeit zur Kooperation, ob in internationalen Recherchenetzwerken oder in interdisziplinären Teams. Denn wer in grenzübergreifenden redaktionellen Settings erfolgreich arbeiten will, sollte sein Handwerk nicht nur beherrschen, sondern Qualitäts- und Relevanzkriterien auch kritisch reflektieren und in andere kulturelle Kontexte übertragen sowie wirksam kommunizieren können. Das gilt für den cross-border Journalismus ebenso wie für die Zusammenarbeit mit Programmierern und Informationsdesignern.

Versteht man Interdisziplinarität als Zusammenarbeit zwischen Fachrichtungen, wäre es sogar ratsam, den Fokus noch weiter aufzuziehen und sektorenübergreifend zu denken. Für den Journalismus könnte ein entsprechender, transdiziplinärer Ansatz bedeuten, die Leserschaft fortlaufend aktiv an der Redaktionsarbeit zu beteiligen. Dafür gibt es bereits eindrucksvolle Beispiele: So bezieht die Krautreporter-Redaktion ihre Community regelmäßig aktiv in die Themenfindung ein. Und der Tagesspiegel schickte hundert Leser:innen mit Messgeräten auf dem Rad quer durch Berlin, um Sensordaten zum Umgang mit Radfahrenden im Straßenverkehr zu sammelten. Gerade für datenjournalistische Fragestellungen, für die keine offiziellen statistischen Daten erhoben werden, kann Crowdsourcing die einzige Möglichkeit sein, an Informationen zu gelangen. Um derartige Projekte belastbar und sinnvoll aufzusetzen, helfen oftmals Erfahrungen in der empirischen Sozialforschung. Der Sensorjournalismus verdeutlicht also zweiterlei: erstens die großen Überschneidungen zwischen dem Datenjournalismus und dem wissenschaftlichen Arbeiten. Und zweitens, weshalb eine universitäre Ausbildung, wie wir sie an unserem Institut anbieten, auch für den Journalismus der Zukunft extrem wertvoll sein kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Titelbild: Image by Alan Warburton / © BBC / Better Images of AI / Nature / CC-BY 4.0

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